Bilanz vom März 2022

Demnächst dann mal weg …

Am 30. Juni 2022 geht Dr. Rotraud Ries als Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums in den Ruhestand. Vor ihrem letzten Arbeitstag liegen noch zwei Monate Urlaub. Für eine kleine Einrichtung, in der die Leitung für (fast) alles zuständig ist, ist das eine Zäsur. Und bietet Anlass für einen Rückblick. Denn in den letzten knapp dreizehn Jahren hat das Zentrum einen bemerkenswerten Wandel durchgemacht.

Zunächst wurde nach dem Leitungswechsel im Jahr 2009 die Zuständigkeit für das Zentrum neu geregelt und fiel an den Bezirk Unterfranken. Im Januar 2011 trat ein Kooperationsvertrag zwischen den Trägern des Zentrums, der Israelitischen Kultusgemeinde, der Stadt Würzburg und dem Bezirk Unterfranken in Kraft. Zugleich wurde das Dokumentationszentrum in “Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken“ umbenannt.

Als Expertin für deutsch-jüdische Geschichte hatte die neue Leiterin Dr. Rotraud Ries diesen Namenswechsel vorgeschlagen, um das Profil des Zentrums zu schärfen. Ihr gelang es mit ihrem sehr kleinen, ständig wechselnden Team, neue Impulse zu setzen, das Zentrum stärker in der Region zu verankern und zum ersten Mal überregional sichtbar zu machen. In vielfältiger Weise führte sie es ins digitale Zeitalter – mit Datenbanken für Bibliothek und Sammlungsbestände, mit einer eigenen Website, mit der systematischen Erfassung und Digitalisierung von Quellen und zuletzt mit umfangreichen online-Angeboten für eine historisch informierte Erinnerungskultur. Hierfür arbeitete sie mit regionalen Akteur:innen zusammen.

Mit Publikationen, Vortragsprogrammen, Lesungen, Zeitzeugeninterviews und Ausstellungen beleuchtete sie die Breite und Vielfalt der jüdischen Gesellschaft und ihrer Kultur über die Jahrhunderte. Darin brachte sie Themen und Fragestellungen der modernen jüdischen Geschichtswissenschaft ein.

Unter ihnen ragen die Zeitzeugeninterviews während der Besuchswoche von 2012 hervor und die weit ausstrahlende Ausstellung über die Familie und Firma Seligsberger. Sie bot vielfältigste thematische Anknüpfungspunkte von der Wirtschafts-, Handwerks-, Stadt- und Frauengeschichte über die Kunst- und Kulturgeschichte bis hin zu den Kontakten mit den über die ganze Welt verstreuten Nachkommen. Die Wiederentdeckung der Judaica-Sammlung der Familie bot die Chance zu einem seltenen Einblick in die jüdische Kultur der Stadt. Die Ausstellungen über Kinder und Jugendliche von 1920-1950 („jung – jüdisch – unerwünscht“) und über die Landjuden („Mitten unter uns.“) stellten Themen in den Mittelpunkt, die bislang überregional noch wenig beachtet worden waren. Im Rahmen der mehrfachen Beteiligung an „Würzburg liest“ entstanden eindrückliche Lesungen, z.B. zu Jehuda Amichai und Ruth Hanover, die auch gedruckt vorliegen. Auch die jüdische Heimatforschung seit den späten 1970er Jahren wurde in einer Ausstellung („Der Spurenfinder“) und in Publikationen thematisiert.

Umfassend hat Ries mit ihrem Team schließlich für das von ihr mitkonzipierte Projekt „DenkOrt Deportationen 1941-1944“ ein strukturiertes und systematisches historisches Informationsangebot konzipiert und erarbeitet. Es ist am DenkOrt selbst und online zugänglich. Mit anschaulichen Beiträgen zu einzelnen Menschen und Familien ermöglicht sie ein wissendes Gedenken.

Nun, nach 75 Praktikant:innen, 6 Volontär:innen und zwei Verwaltungsmitarbeiterinnen, nach 12 Ausstellungen, 25 Publikationen, mehreren WebApps und Websites und etwa 30.000 geschriebenen Emails geht diese Phase zu Ende und Dr. Ries wird Würzburg wieder verlassen. Der jüdischen Geschichte und Kultur, hier und anderswo und mit verschiedenen Medien, wird sie jedoch weiter verbunden bleiben.

Quelle: Website des Johanna-Stahl-Zentrums, März 2022