Johanna Stahl, geb. Kahn (1888-1942) - Aus dem Waisenhaus zur Mitarbeiterin Bertha Pappenheims

Johanna Kahn wurde 1888 in Hungen als Tochter des Weinhändlers Adolph Kahn (1845-1936) und seiner Frau Therese, geb. Salomonsohn (1852-1893) geboren. Ihr Vater stammte aus Jugenheim und war nach seiner Hochzeit 1872 nach Hungen gezogen, wo sein Schwiegervater Salomon Salomonsohn (1814-1894) als Kaufmann und Religionslehrer lebte.

Johanna hatte sieben Geschwister, von denen allerdings zwei Brüder bereits im ersten Lebensjahr starben. Sie selbst war die zweitjüngste. Zwei ihrer Brüder fielen wohl im 1. Weltkrieg, ein weiterer wanderte bereits um 1904 in die USA aus. Zu ihrem jüngsten Bruder liegen keine Informationen vor.

Kurz nach dessen Geburt 1893 starb die Mutter. Zurück blieb der Vater mit sechs Kindern im Alter zwischen 0 und 16 Jahren, darunter die fünfjährige Johanna. Ein Jahr später starb auch der 80jährige Großvater. Seitdem hatte die Familie keine Verwandten mehr vor Ort. Doch Adolph Kahn ging (erst mal) keine zweite Ehe ein. Da er sich wohl nicht alleine um die Kinder kümmern konnte, gab er Johanna – und möglicherweise auch weitere der jüngeren Geschwister – ins Waisenhaus. Johanna wuchs in der Israelitischen Mädchenwaisenanstalt in Frankfurt a.M. auf.

Der 16-jährige, älteste Bruder Moritz (1877-1916) wurde Kaufmann und zog 1898 nach Friedberg und später nach Bad Homburg. Der Vater ging mit ihm, ggf. mit weiteren Geschwistern in seinem Haushalt. Vielleicht hatte Moritz in Friedberg geheiratet, so dass nun wieder ein Familienhaushalt mit einer Frau vorhanden war. Vermutlich führten Moritz und Adolph gemeinsam ein Geschäft. Nach dem Kriegstod von Moritz 1916 verließ Adolph Kahn Bad Homburg und zog zu seiner seit 1919 in Ober-Ramstadt verheirateten Tochter Julie Bendorf (1885-1939), der älteren Schwester von Johanna. Auch hier betrieb der 74-Jährige vielleicht noch einmal zusammen mit seinem Schwiegersohn Moses Bendorf (1887-1942/45) ein Geschäft. Das Kaufhaus trug jedenfalls 1930 den Namen „Gebrüder Kahn“, wurde aber von Moses Bendorf geführt. Adolph Kahn starb 1936 in Ober-Ramstadt, seine Tochter Julie Bendorf 1939 in Mannheim – dort, wo seit 1927 ihre Schwester Johanna mit ihrem Mann Baruch Stahl lebte.

Die Bewohnerinnen der Isr. Mädchenwaisenanstalt, ca. 1902, mit Bertha Pappenheim (re.), Jüdisches Museum Frankfurt a.M.

Sie war vermutlich recht bald nach dem Tod ihrer Mutter 1893 in die Mädchenwaisenanstalt in Frankfurt gekommen – und verbrachte dort wohl den Rest ihrer Kindheit und Jugend. Nur so ist zu erklären, dass Bertha Pappenheim (1859-1936), die die Einrichtung des Israelitischen Frauenvereins ab 1895 zunächst in Vertretung führte und dann leitete, zu ihr und zwei weiteren Mädchen enge Beziehungen aufbaute. Neben Johanna waren dies Helene Krämer (1881-1977) und Sophie Mamelok (1888-1979), geb. Rosenthal. Auf dem Gruppenfoto von etwa 1902 stehen die drei in dieser Reihenfolge von links nach rechts direkt neben ihr. Mehrfach wird „Johanna“ und einmal „Johanna Kahn“ in den Briefen von Bertha Pappenheim an Sophie Mamelok erwähnt. Pappenheim hat „ihre Kinder“ (S. 29, 36, 45) auf ihrem weiteren Weg durch Ausbildung und erste Berufsjahre beraten und begleitet und sie als Mitarbeiterinnen eingestellt. Es ist also anzunehmen, dass sie auch mit Helene Krämer und mit Johanna Kahn Briefwechsel führte, wenn sie nicht in direktem Kontakt mit ihnen stand. Sie sind nicht erhalten. Zusammen mit Helene Krämer hat die inzwischen verheiratete Johanna Stahl 1936 in der Gedächtnisschrift für Bertha Pappenheim in den Blättern des Jüdischen Frauenbundes über die ersten praktischen pädagogischen Erfahrungen Pappenheims in der Mädchenwaisenanstalt zwischen 1895 und 1906 geschrieben.

Aus den Briefen Bertha Pappenheims an Sophie Mamelok geht auch hervor, dass Pappenheim die 18-jährige Johanna Kahn nach ihrem Ausscheiden aus dem Mädchenwaisenhaus in ihren Haushalt aufnahm: „Die einzige Neuigkeit ist für Dich vielleicht, dass ich außer Ruha auch noch Johanna Kahn zu mir nehme als Nachfräulein. Da weiß ich auch, was sie treibt und ißt und habe sie in meiner ärztlichen Aufsicht, wie sie es braucht. Freilich, kochen und alles, was damit zusammenhängt, muß sie.“ (12.11.1906, S. 30) Noch bis 1910 blieb Johanna Kahn in Frankfurt, bevor sie sich im Februar nach Neu-Isenburg abmeldete. Dort wohnte und arbeitete sie bis zum 01.10.1921 im Heim des Jüdischen Frauenbundes, Taunusstr. 9, unterbrochen durch einen viermonatigen Aufenthalt in Berlin 1916. Im Einwohnerregister wird sie als „Stütze“ bezeichnet, hat also wohl im Bereich der Hauswirtschaft gearbeitet. 1914, mit der Eröffnung des zweiten Hauses in Isenburg, übernahm sie verantwortungsvollere Aufgaben. Dazu schreibt Pappenheim an Mamelok (28.02.1914, S. 38): „Sonst weiß ich wenig, was Dich interessieren kann. Daß Johanna das 2. Haus in Isenburg als Leiterin übernimmt, wirst Du wissen, und wie mich dies freut, kannst Du Dir denken.“

Im Oktober 1921 zog Johanna Kahn von Neu-Isenburg nach Königsberg in Preußen. Was sie dort machte und wie lange sie dort blieb, wissen wir nicht. Ihre Reise könnte auf eine Entsendung durch Bertha Pappenheim zurückgehen. Für andere Mitarbeiterinnen ist so etwas bekannt, sie schickte sie zum Aufbau neuer Einrichtungen bis nach Galizien. In Königsberg gab es seit 1916 eine Gruppe des Jüdischen Frauenbundes, die einen Kindergarten unterhielt, 1922 ein rituell-geführtes Erholungsheim für erwerbstätige Frauen und Mädchen in Cranz eröffnete und 1925 ein kleines Heim mit Wöchnerinnen- und Säuglingsfürsorge für mittellose und meist unverheiratete Mütter einrichtete.

Nach einiger Zeit kam Johanna Kahn nach Frankfurt zurück. 1927 belegt ihre Heiratsurkunde, dass sie Fürsorgerin war und in der Feldbergstr. 23 wohnte – im gleichen Haus wie Bertha Pappenheim und vielleicht als ihre Untermieterin/Mitarbeiterin. Denn hier war auch die Geschäftsstelle des Heims in Neu-Isenburg. Johanna Kahn heiratete den Hauptlehrer Baruch Stahl (1876-1942) und zog mit ihm nach Mannheim in die Rupprechtstr. 12. Stahl war verwitwet und hatte drei Söhne im Alter von 11 bis 18 Jahren. Sie waren sehr aktiv in der zionistischen Jugendbewegung und die beiden älteren wanderten jeweils im Alter von 20 Jahren nach Palästina aus. Der Älteste wurde dort 1932 ermordet. Der jüngste Sohn floh 1939 nach England und gelangte auf Umwegen erst 1942 nach Palästina. Eigene Kinder sollte die 39-jährige Johanna Stahl nicht mehr bekommen.

Johanna Stahl, geb. Kahn © Yad Vashem 14144632

Sie engagierte sich in der mehrheitlich liberalen Jüdischen Gemeinde und wurde 1930 neu in die Gemeindevertretung und darin 1934 in den Arbeitsausschuss für das Wohlfahrtsamt gewählt. Eine solche Beteiligung an der Gemeindevertretung war lange vom Jüdischen Frauenbund gefordert worden – aber immer noch nicht überall durchgesetzt. Vermutlich unterhielt Stahl weiterhin Kontakte zum Jüdischen Frauenbund bzw. zu Helene Krämer, mit der zusammen sie dann 1936 in der Gedächtnisschrift über Bertha Pappenheims pädagogische Anfänge berichtete.

Am 22. Oktober 1940 wurden Johanna und Baruch Stahl mit der jüdischen Bevölkerung aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Gurs in Südfrankreich ins Internierungslager deportiert. Von hier konnten sie noch an den Sohn in Palästina schreiben – so im September 1941 zu Rosch Haschana, als Johanna formulierte: „Pläne zu machen ist jetzt etwas verfrüht, es wird erst dazu an der Zeit sein, wenn die Welttragödie beendet ist. Dass sie zum Guten ausgehe für die Menschen, die den Frieden lieben und die Freiheit der Menschen, das ist mein Wunsch im neuen Jahr.“ Vielleicht war es ihr letzter Brief. Ihr Wunsch ging jedenfalls nicht in Erfüllung. Nach fast zwei Jahren Internierung wurde sie mit ihrem Mann zurück ins Sammellager Drancy und von dort am 12. August 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Vermutlich kurz nach der Ankunft wurde das Ehepaar dort ermordet. Ein Stolperstein wurde für sie bislang nicht verlegt.

Quellen (in der Reihenfolge der Verwendung)

HStA Marburg Best. 905, Nr. 677, Geburtsurkunde 22/1888 für Johanna Kahn

Hanno Müller/ Dieter Bertram/ Friedrich Damrath, Judenfamilien in Hungen und in Inheiden, Utphe, Villingen, Obbornhofen, Bellersheim und Wohnbach, Hungen 2009, S. 66f., 85, 89, 48

Helga Heubach (Hg.), Das Heim des jüdischen Frauenbundes Neu-Isenburg, Taunusstraße 9, 1907 bis 1942, gegründet von Bertha Pappenheim. Im Auftrag des Magistrats der Stadt Neu-Isenburg herausgegeben, Neu-Isenburg 1986, bes. S. 12

Britta Konz, Bertha Pappenheim (1859-1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a.M. 2005 (Geschichte und Geschlechter, Bd. 47), S. 72f.

Auskunft der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich vom 24.10.2022 zum Sterbedatum von Sophie Mamelok

Dora Edinger (Hg.), Bertha Pappenheim. Leben und Schriften, Frankfurt a.M. 1963, S. 29-46: Briefe an Sophie Mamelok

Blätter des Jüdischen Frauenbundes Jg. 12, Nr. 7/8 (1936), S. 5f.

Stadtarchiv Neu-Isenburg, Einwohnermelderegister für Johanna Kahn

Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen, 1871-1945, Göttingen 1996 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 56), S. 255, 261f.

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Auskunft vom 27.09.2022

marchivum Mannheim, Auskunft vom 06.09.2022 und D1 84

Israelitisches Familienblatt Jg. 32, Nr. 50, 11.12.1930, und Jg. 36, Nr. 50, Dez. 1934, S. 6

Online-Gedenkbuch des Bundesarchivs: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de973602, https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de973570

Foto von Johanna Stahl: https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=14144632&ind=0 


Recherche und Text: Rotraud Ries